Jochen Mattern: Kultur ist Konflikt ...
... und kein integrativer Kitt
I. Moderne, demokratische Gesellschaften sind funktional ausdifferenzierte Gesellschaften, und zwar gerade auch in kultureller Hinsicht. Auch wenn das Wort aus dem offiziellen Sprachgebrauch getilgt worden ist, sind moderne Gesellschaften genau das: multikulturell. Die Existenz unterschiedlicher Lebensweisen und Kulturen kennzeichnet sie.
Kulturelle Vielfalt stellt eine Bereicherung für die Gesellschaft dar. Ihre Grenze findet sie dort, wo Menschen durch Traditionen in (ethnischen, religiösen) Gruppen oder soziale Ausgrenzung in ihren Menschenrechten beeinträchtigt sind und daran gehindert werden, sich an der demokratischen politischen Kultur zu beteiligen. Vor kultureller Vielfalt rangiert die demokratische Gleichheit.
Kultur ist demzufolge kein Kollektivsingular, sondern ein Plural: Die (eine) Kultur gibt es nicht. Kultur ist keine Gesamtheit oder Summe geistiger Werte und Symbolik, die Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen; Kultur ist, um dennoch beim Singular zu bleiben, ein bewegliches, weil umstrittenes und umkämpftes Praxisfeld. Kulturen sind ein hegemoniales (Macht)Konstrukt. Das begründet die Möglichkeit ihrer steten Veränderbarkeit.
Der Diffusion des herkömmlichen Kulturverständnisses tragen die in Großbritannien beheimateten Cultural Studies dadurch Rechnung, dass sie nicht mehr von Kultur als einer allgemeinen Form der Symbolisierung und Materialisierung sprechen und stattdessen von einer Vielfalt kultureller Praktiken ausgehen, die im Alltag zur Anwendung gelangen und deren symbolische Dimension sie untersuchen.
"Die in der Soziologie dominierende Auffassung, die Kultur in erster Linie nach der Gemeinsamkeit von Werten und Bedeutungen befragt und als integrativen 'Kitt' der Gesellschaft vereinnahmt", heißt es in einem einschlägigen Text zu den Cultural Studies, "weisen sie zurück. Dagegen zeigen die Vertreter der Cultural Studies immer wieder das Aufbrechen oder das Fehlen eines Konsenses in Wert- und Bedeutungsfragen und die zugrunde liegenden Konflikte auf, indem sie die durch Machtverhältnisse bestimmten und nach Lebensform, Klasse, Geschlecht, Alter und ethnischer Zugehörigkeit differenzierten und hierarchisierten Gesellschaften der globalen Spätmoderne untersuchen und so die Vorstellung einer Kultur als Trugbild entlarven."(1)
Eine Kulturpolitik, die aus falsch verstandener Harmoniesucht die integrative Funktion von Kultur auf der Basis einer Gemeinsamkeit von Werten und Bedeutungen betont, hegt ein affirmatives Kulturverständnis. Wer Kultur als eine "Lebens- und Wertegrundlage einer Gesellschaft" (Grüne) oder als "geistige Lebensgrundlage" (SPD) begreift, hängt einem traditionellen, antiquierten Kulturverständnis an.
Moderne Gesellschaften, um das noch einmal hervorzuheben, sind vielfältig fragmentierte, plurale Gebilde. Das bedingt ihre Konflikthaftigkeit und Kontroversität. Nur im Medium des Konflikts bilden moderne Gesellschaften eine kollektive Identität aus. Von der "Herrschaft der Argumente" hat Brecht einmal gesprochen. Eine zivile und demokratische Streitkultur verlangt allen Beteiligten eine "Dezentrierung der jeweils eigenen Perspektive" ab. Genau das praktizieren die Künste. Sie pflegen einen spielerischen Umgang mit der Realität, was sie "einer Gefahr für das Bestehende" macht. "Mit Realität zu spielen", sagt der Dramatiker Heiner Müller, "ist eine subversive Haltung, zersetzt die Realität. Dagegen arbeitet der Kunstmarkt. Er macht Kunstwerke zu Kulturgütern und will sie sterilisieren, sie ungefährlich machen, indem er sie in die Zirkulation des Marktes einbringt. Kunstwerke brauchen Ruhe, um ihre destruktive Kraft auszuüben."(2)
II. Ein plurales Kulturverständnis entgeht der Gefahr, in die eine traditionelle Kulturauffassung immer wieder gerät: der Kultur eine Essenz zu unterstellen, einen Wesensgehalt, der unveränderlich und deshalb auch unverhandelbar ist. Eine solche (Wesens)Kultur ist partikular und nicht universalistisch orientiert. Im rechtskonservativen Gebrauch avanciert Kultur zu einem identitätsstiftenden Faktor, der, weil nicht diskursiv, Ursache von Identitätskonflikten und einem Kampf der Kulturen ist. Nicht auf Überschreitung und Wandel des Gegebenen, des vermeintlich Eigenen sinnt ein solches Kulturverständnis, sondern auf Abgrenzung und Verharren im Bestehenden.
Ein Blick in die sächsische Landeshauptstadt Dresden, wo eine selbsternannte "konservative Avantgarde" (Marc Jongen) ihr Unwesen treibt, illustriert den Gegensatz zwischen einem liberalen und einem rechtspopulistischen Kulturverständnis. Politikwissenschaftler der TU Dresden beschreiben das kollektives Selbstverständnis der Sachsen folgendermaßen (Für die Länge des Zitats sei um Nachsicht gebeten.):
Es zeichnet sich "durch ein starkes Selbst- und Traditionsbewusstsein aus. Als dessen Orientierungspunkte gelten eine lange Geschichte politischer Eigenständigkeit, eine Tradition sächsischen 'Glanzes' von Kunst und (höfischer) Prachtentfaltung sowie der 'Erfindergeist' seiner Ingenieure. Auf dieser Grundlage", so die Soziologen weiter, "gedeiht ein 'landsmannschaftlicher Zusammenhalt', der sich in kollektiver Selbstbezogenheit und Eigensinn äußert.
Diese Selbstwahrnehmung wurde schon unter dem DDR-Regime gepflegt. In den schwierigen Jahren des sozioökonomischen Umbruchs nach 1990 knüpften die von der CDU geführten Regierungen an dieses Muster an: Man war stolz, Vorreiter der ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung in Ostdeutschland zu sein.
Auch die offensichtliche Bereitschaft zur kollektiven, ja öffentlichen Artikulation von fremdenfeindlichen Einstellungen gegenüber 'Fremden' sowie gegenüber einer als real empfundenen politischen und medialen Elite kann als Ausweis eines besonders unverhohlen gepflegten ethnokulturellen Zentrismus interpretiert werden.
'SächsischerChauvinismus' geht mit der Überhöhung der eigenen Gruppe, der Abwertung von Fremden und einer starken Setzung von Vorrechten der Autochthonen einher."(3)
Im Chauvinismus eines Großteils der Sachsen wird etwas Vorpolitisches politisch bedeutsam: eine traditionelle Auffassung von Kultur. Sachsenstolz, das ist ein kollektiver Narzissmus, selbstverliebt und traditionell; stolz auf Tradition, Geschichte und Herkunft, Essenz und kulturelle Identität und bedacht auf die Verteidigung des Leistungsvorsprungs und die Wahrung eines Wohlstandsvorteils und kultureller Überlegenheit gegenüber anderen. Zweifellos erhöht sich auf diese Weise der Stellenwert von Kultur, jedoch auf eine für die Demokratie fatale Weise, denn die Demokratie beruht nicht auf einem ethnisch homogenen Volksverständnis, sondern auf einem politischen Verständnis der Bevölkerung: Die Demokratie kennt keine Volksgenossen, sondern ausschließlich Staatsbürger/ -innen.
Wenn ethnische und religiöse Differenzen zum Kriterium für die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen erklärt werden, dann wandelt sich das Selbstverständnis der Bürgerschaft eines Landes. Aus rechtlich und politisch gleichen Staatsbürgern und -bürgerinnen, die öffentlich räsonieren und sich dabei den in der Verfassung verankerten Menschen- und Bürgerrechten verpflichtet wissen, werden Volksgenossen, die sich zuallererst einer Kultur zugehörig fühlen. Sie sorgen sich mehr um ihre kulturelle Homogenität und Identität als um die republikanische Gleichheit in der politischen Meinungs- und Willensbildung.
Dagegen, die Prinzipien einer säkularen, auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Toleranz beruhenden politischen Kultur zu verteidigen und eine Menschenrechtskultur zu entwickeln, die von der "Würde des Menschen" ausgeht.
Und wer freie Künste haben möchte, der muss für die Kunstfreiheit ebenso kämpfen wie für eine demokratische Konfliktaustragung. Diese politische Herausforderung muss die Kulturpolitik annehmen.
Wer aus fadenscheinigen Gründen das Konzert einer Punkband absagt, wie ausgerechnet am Bauhaus in Dessau geschehen, der setzt ein fatales Zeichen. Es beschädigt das Ansehen des Bauhauses, dessen 100jähriges Gründungsjubiläum 2019 begangen wird, und es stärkt die rechten Kräfte im Lande.
Anmerkungen
(1) Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Hrsg. v. Hörning/ Winter; Frankfurt/ Main 1999, S. 8f
(2) Heiner Müller: Jenseits der Nation. Rotpunkt-Taschenbuch 1991, S. 72
(3) Vorländer/ Herold/ Schäller: Was ist Pegida und warum? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Oktober 2015, S. 6