Tom Mustroph: Meine Antworten
Kunst und Kultur sind nicht das Gleiche, werden aber oft synonym gebraucht, was die Sache nicht einfach macht.
1. "Kultur für Alle" und "breiter Kulturbegriff" – ist das "Kunst" oder kann das weg?
Kunst und Kultur sind nicht das Gleiche, werden aber oft synonym gebraucht, was die Sache nicht einfach macht. Die Linke sollte also darüber nachdenken, ob sie Kulturpolitik oder Kunstpolitik meint. Letztes wäre Bedingungen schaffen, dass Künstlerinnen ‚gute Kunst’ (was immer das ist...) auf gute Art und Weise produzieren können und Publikum / Besucher / Partizipanten möglichst schwellenfrei der ‚guten Kunst’ teilhaftig werden können. Kulturpolitik meint mehr, meint vor allem den Umgang miteinander, meint die Art und Weise, wie Konflikte und Interessensgegensätze erkannt, identifiziert, bestenfalls gelöst, pragmatischen Falls in (fairen) Ausgleich gebracht werden können. Kulturpolitik ist daher eben auch Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Kultur der Kommunikation, Kultur der Politik... Die Linke sollte also entscheiden, ob sie diesen ganz weiten Kulturbegriff vertreten sollte.
2. Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik: machen wir das für alle oder machen wir das für "uns"?
Naja, es sollte für alle gemacht werden. Realität ist aber, dass Kulturpolitik (und "Kunstpolitik") dazu neigt, in autoreferentiellen Schleifen zu verharren. Andererseits ist aber auch nicht zu erwarten (und wohl auch nicht zu wünschen...), dass jede und jeder aktiv Kulturpolitik betreibt. Kulturpolitik sollte die gesamte Gesellschaft im Auge haben (was eben auch meint, dass Kunst nicht nur für die gebildeten und "kulturaffinen" 1 bis 10 Prozent der Gesellschaft gemacht werden sollte), darüber hinaus selbst offen sein für neue Akteurinnen und Akteuren und selbst eben Bedingungen schaffen für gute Kunstproduktion (siehe Antwort zu 1.) und auch gute Kultur in der Gesellschaft (also zivilisierte Formen des Interessensausgleichs; siehe ebenfalls Antwort zu 1.).
3. Muss Kunst irgendwas müssen – ist Kunstfreiheit heute noch real?
Geförderte Kunst muss heutzutage leider viel müssen, Kunstfreiheit ist also infrage gestellt. Allerdings existiert Kunst nicht losgelöst von Gesellschaft, nimmt immer auch Bezug darauf bzw. wird (auch) so rezipiert. Absolute Freiheit der Kunst ist also nicht möglich, als Ziel sollte sie im Kunst(förder)alltag aber immer wieder angestrebt werden.
4. Braucht Kultur überhaupt öffentliche Förderung?
Kultur als zivilisierte Form von Interessensausgleich braucht Förderung, weil sich sonst immer der Stärkere (ökonomisch, politisch, militärisch, publizistisch Stärkere) durchsetzt – eine Verengung der Varianz, die die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft selbst mindert. Kultur als zivilisierte Form des Interessensausgleichs liegt daher im Interesse der gesamten Gesellschaft (das ist zwar ebenfalls autoreferentiell, wird deshalb aber nicht unzutreffender). Kunst braucht, verstanden als Kunst, die fern bzw. unabhängig vom bzw. in Resonanz zum Markt entsteht und deshalb für eine höhere Varianz sorgt als Kunstmarktkunst allein, ebenfalls öffentliche Förderung.
5. Muss Kunst sich rechnen und wenn ja für wen?
Marktkonforme Kunst rechnet sich (sie muss sich nicht rechnen, sie rechnet sich einfach, für Galeristen, Kuratoren, Sammler, erfolgreiche Künstler). Marktkonforme Kunst ist aber nur ein Teil von Kunst. Daher gilt das in der Frage formulierte Gebot eben nur für einen Teil, und dort als Definition derselben.
6. "Hochkultur" oder "freie Szene" ist das noch die Frage?
Jein. Es gibt weiter strukturelle Unterschiede zwischen der institutionalisierten Kunst (landläufige Bezeichnung "Hochkultur") und der nicht-institutionalisierten Kunst ("freie Szene" oder "alternative Kunst" oder, oder). Das heißt, es ist ein Thema.
Sollte es weiter Unterschiede zwischen institutionalisierter Kunst und nicht-institutionalisierter Kunst geben? Ja, klar! Die Frage ist, welche Unterschiede. Institutionalisierte Kunst hat bestimmte handwerkliche und organisatorische Fähigkeiten und Fertigkeiten herausgebildet, auf die eben nicht verzichtet werden sollte wie z.B. Repertoirebetrieb, also das Nebeneinander von Kunstprodukten verschiedenster Epochen und Kulturen; Theaterstücke, Opernlibretti, Partituren, dazu solche Infrastrukturen wie Theaterwerkstätten, Theaterensembles, Ballettensembles und Klangkörper; Museumsbetrieb, das Nebeneinander von Werken verschiedenster Epochen und Kulturen der bildenden Kunst, dazu Archive & Festivals für Film & Video. Eine Angleichung an Produktions- und Präsentationsweisen der nicht-institutionalisierten Kunst wäre daher mit einem Verlust an Kultur und Kunst verbunden.
Soll nicht-institutionalisierte Kunst besser unterstützt werden? Definitiv ja. Das kann bis zur (paradox klingenden, aber nicht unbedingt paradox seienden) Institutionalisierung nicht-institutionalisierter Kunst gehen. "Institutionalisierung nicht-institutionalisierter Kunst" meint hier: Aufbau von Archiven, Schulen, Weitergabe von Methoden und Praktiken. Dazu ist das Verhältnis der (staatlichen, regionalen und kommunalen) Förderung zwischen institutionalisierter und nicht-institutionalisierter Kunst von aktuell ca. 95 % zu 5 % auf mittelfristig 2/3 zu 1/3 und langfristig auf 1 zu 1 anzuheben, ohne dass die absolute Förderung für institutionalisierte Kunst verringert wird (wünschenswert wäre selbstverständlich eine Anhebung der Förderung für institutionalisierte Kunst PLUS Angleichung der Förderhöhen für nicht-institutionalisierte Kunst; es gilt ja, einen mutigen Blick in die Zukunft zu werfen...).
7. Der Kulturföderalismus ist tot – es lebe die Gemeinschaftsaufgabe mit dem Bund?
Hm. Angesichts drohender Indienstnahme der Kunst durch an Popularität gewinnende politische Akteure sollte der Kulturföderalismus als Gegengift zur Gleichschaltung von Kultur und Kunst unbedingt erhalten werden. (Historisch gesehen dürfte der größte Vorteil der deutschen Kleinstaaterei im 17. bis 19. Jahrhundert in der dadurch auch ermöglichten kulturellen Vielfalt gelegen haben, Motto: Unterstützt mich nicht d e r Fürst, fördert mich der andere...)
8. Einwanderungsgesellschaft – Kultur der Vielen oder viele Kulturen?
Ebenfalls Hm. Kultur kann nicht verordnet werden, Kultur bildet sich heraus. Gesetz(t) werden können Rahmenbedingungen. Umkämpftes Revier ist sicherlich, wenn Trägerinnen und Träger neuer und/oder minoritärer Kulturen Gepflogenheiten, Bräuche, Riten und Gesetze mit sich bringen, die einer – selbst durchaus heterogen begriffenen – Gastgebergesellschaft / Mehrheitsgesellschaft als kultureller Rückschritt erscheinen (etwa Ungleichheit von Mann und Frau, Staatsreligion, Ersetzung ziviler (säkularer) Gesetze / Gerichte durch religiöse Gesetze / Gerichte). Muss die "Mehrheitsgesellschaft" solche "Rückschritte" kampflos hinnehmen? Nein. Muss sie gegen solche "Rückschritte" kämpfen? Ja, zumindest, wenn es sich um klare Rückschritte handelt. Haben minoritäre Gesellschaften ein Recht auf Ausübung ihrer Riten, Gesetze, Praktiken? Grundsätzlich ja. Haben Sie ein Recht darauf, wenn diese Riten, Gesetze und Praktiken die errungenen Übereinkünfte und Normen der Mehrheitsgesellschaft verletzen? Grundsätzlich nein. Was können die einen von anderen – und umgekehrt – verlangen? Das ist das umkämpfte Feld, für das Kultur(en) den (durchaus veränderlichen) Rahmen setzen sollten.
9. Zugang zur Kunst und Kultur für alle - und das umsonst?
Nein. Zugang zu Kunst sollte niedrigschwellig sein. Zugang komplett umsonst führt in monetär/kapitalistisch geprägten Gesellschaften wie der, in der wir uns befinden, zu einer sukzessiven Abwertung des Werts der Kunst. Zugang zu Kultur ist sowieso ‚umsonst’. Um ein Kommunikationsgesetz abzuwandeln: Menschen können nicht nicht-kulturellen Umgang pflegen; die Frage ist immer, wie dieser kulturelle Umgang gestaltet und geprägt ist.
10. Digitalisierung der Kultur, bringt's uns was?
Ja, klar. Chancen UND Probleme. Wäre ein Thema für einen längeren Essay...
11. Gibt es eine Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?
Ja. Die Frage ist, welche? Welche Zukunft ist gewollt? Eigentlich eine, die bereits im Programmauftrag formuliert ist: Information, Bildung und Unterhaltung ZU GLEICHEN TEILEN. Werbung (oder Finanzierung durch Werbung) gehört nicht zum Programmauftrag. Das aktuelle programmatische Ungleichgewicht zwischen Unterhaltung, Information und Bildung gehört beseitigt, andernfalls ist die Finanzierung durch Gebühreneinzug mittelfristig politisch nicht mehr tragbar. Stichprobe ARD-Programm 20.2.2019: ca. 14 Stunden Unterhaltung, ca. 8 Stunden Information, ca. 2 Stunden Bildung. Selbst wenn man sich über die Anteile von Unterhaltung, Information und Bildung bei einzelnen Sendungen streiten kann, fällt doch ein enormes Ungleichgewicht auf. Politisch müssen hier die Rundfunkräte eingreifen.
- 5.30 – 9.00 Unterhaltung und Information
- 9.00 – 9.05 Information
- 9.05 – 9.55 Unterhaltung, Bildung & Information
- 9.55 – 10.44 Unterhaltung
- 10.44 – 10.45 Information
- 10.45 – 12.00 Unterhaltung und Bildung
- 12.00 – 12.15 Information
- 12.15 – 14.00 Unterhaltung, Information und Bildung
- 14.00 – 14.10 Information
- 14.10 – 15.00 Unterhaltung
- 15.00 – 15.10 Information
- 15.10 – 16.00 Unterhaltung
- 16.00 – 16.10 Information
- 16.10 – 17.00 Unterhaltung
- 17.00 – 17.15 Information
- 17.15 – 18.00 Information und Unterhaltung
- 18.00 – 18.50 Unterhaltung und Bildung
- 18.50 – 19.45 Unterhaltung
- 19.45 – 19.50 Bildung
- 19.50 – 20.15 Information
- 20.15 – 21.45 Unterhaltung
- 21.45 – 22.45 Information
- 22.45 – 0.20 Unterhaltung und Information
- 0.20 – 1.53 Unterhaltung (Wiederholung von 20.15)
- 1.53 – 1.55 Information
- 1.55 – 3.25 Unterhaltung
- 3.25 – 4.40 Unterhaltung und Information (teils Wiederholung von 22.45)
- 4.40 – 4.58 Information und Unterhaltung (teils Wiederholung von 17.15)
- 4.58 – 5.00 Information
- 5.00 – 5.30 Information (Wiederholung von 21.45)
12. Europäische Union – Wertegemeinschaft oder Binnenmarkt?
Wieso oder? Die Union kann nur funktionieren, wenn sie kulturell wie ökonomisch funktioniert. Kultur bedeutet zivilisiertes Aushandeln von Interessengegensätzen, die Union muss also immer wieder neu erkämpft werden. Das schließt Ein- wie Aus- wie Wiederein- und Wiederaustritte ein; fraglich ist natürlich die Belastbarkeit.